Die Natur offenbart sich in ihrer ganzen Grösse. Augen und Gedanken schwelgen.

Der Dichter kann es besingen,

der Maler in reichen Dingen darstellen,

aber den Duft der Wirklichkeit,

der dem Betrachter auf ewig in die Sinne dringt und darin bleibt,

können sie nicht wiedergeben.

(Hans Christian Andersen)

Das Märchen vom Löwenzahn

Auf einer wunderschönen Frühlingswiese streckte ein Löwenzahn seinen Blütenstern der Sonne entgegen. Am Morgen begrüsste er mit seinem strahlenden Lächeln den neuen Tag, und wenn die Dämmerung über das Land zog, kuschelte er sich in seinen grünen Blütenkelch und schlief ein. Viele Freunde und Freundinnen wuchsen um ihn herum und jeden Morgen begrüssten sie einander mit einem fröhlichen Lachen.

Eines Tages setzte sich ein zarter, bunter Schmetterling mitten in den Blütenstern. Das kitzelte den kleinen Löwenzahn und macht ihn ganz kribbelig. „Wo kommst denn du her?“ fragte er den Schmetterling. „Du hast ja keinen Stengel und keine Wurzel? Ich sehe nur ganz wunderschöne Blütenblätter. Was für eine eigenartige Blume bist du bloss?“ „Ich bin aber keine Blume!“ rief der Schmettering ganz entrüstet. „Ich brauche keinen Stengel und keine Wurzel. Ich kann fliegen!“ Der Löwenzahn wurde ganz aufgeregt, wackelte mit seinem Stengel, zupfte leicht an seiner Wurzel und war sehr froh, als er spürte, dass sie so fest in der Erde steckte. „Was ist denn das – Fliegen?“ fragte er den kleinen Gaukler auf seiner Blüte. „Etwas ganz Herrliches! Ich flatttere einfach mit meinen Flügeln hin und her und lasse mich durch die Luft tragen. So kann ich überall sein, wo es mir gefällt. Weisst du, da draussen auf der Wiese gibt es noch so viele schöne Blumen – rote, blaue, violette, gelbe. Wo es mir Spass macht, kann ich mich niederlassen. Ich kann eine schöne Blüte küssen, süssen Nektar trinken, Geschichten erzählen und dann wieder weiterfliegen. Es ist ein herrliches Leben! Wie muss es doch für dich so langweilig sein, immer am selben Platz zu stehen und immer dieselben Blumen zu sehen. Ha, wie schön ist doch die weite Welt! Leb wohl, vielleicht komme ich auch einmal wieder bei dir vorbei“ – und weg war der schöne, bunte Schmetterling. Nachdenklich schaute der Löwenzahn dem kleinen Falter nach. Sollte es wirklich so schön sein in der weiten Welt? Was seine Sonnenwiese nicht der allerschönste Platz? So grübelte er den ganzen Tag bis ihm die Nachtfee über sein Blütenköpfchen streichelte. Dann kuschelte er sich in seinen grünen Kelch und schlief ein.

Am nächsten Morgen plumste ihm plötzlich eine dicke Hummel mitten ins Gesicht. „Guten Morgen, kleines Gelbes! Darf ich mich ein wenig bei dir ausruhen und mich an deinem Nektar laben?“ „Ich freue mich über deinen Besuch“, rief der kleine Löwenzahn, und wieder spürte er ganz aufgeregt das Kribbeln in seinem Stengel bis hinunter zur Wurzel. „Kommst du auch aus der grosssen weiten Welt?“ „Na klar“, brummte die dicke Hummel, „viele Tage bin ich schon durch die Welt gebrummelt. Hinter der Wiese stehen grosse Obstbäume. Dort ist es schön! Was glaubst du wohl, wen ich dort treffe? Alle meine Verwandten und viele, viele Freunde! Bei dir wäre es mir zu langweilig. Ach, was muss das für ein armseliges Leben sein, immer am gleichen Platz zu stehen. Du tust mir wirklich leid. Adieu!“ Und mit grossem Gebrumm summte die Hummel davon. An diesem Tag wurde die Sehnsucht im Herzen des kleinen Löwenzahns nach der grossen, weiten Welt noch stärker, und als diesmal die Nachtfee seine Blütenblätter streichelte, sah sie ganz tief drinnen versteckt eine kleine Träne liegen.

Kaum war der kleine Löwenzahn am nächsten Morgen  erwacht, sirrte eine Libelle heran und liess sich in seine Blütensonne nieder. Aufgeregt wippte sie mit ihrem Körper und hielt Ausschau nach einer Beute. So bemerkte sie überhaut nicht, wie eine dicke Träne aus dem Kelch des Löwenzahns kullerte. „Kommst du auch von den Obstbäumen jenseits der Wiese?“, versuchte er ein kleines Gespräch zu beginnen. „Ich? Ich komme doch nicht von den Obstbäumen!“ rief sie entrüstet. „Schau doch mein schillernden Leib und meine gläsernen Flügel an. Ich komme vom See! Dort wohne ich im Schilf, schwirre über das Wasser und kann darin – so oft ich will – mein Spiegelbild sehen. So weiss ich, wie schön ich bin.“ Sirr – war sie weg und hatte eine Fliege geschnappt. Den ganzen Tag über dachte der Löwenzahn darüber nach, wie er wohl aussehen würde: Vielleicht so wie seine Schwestern und Brüder um ihn herum auf der Wiese, oder doch ganz anders? Nun zupfte er kräftiger an seiner Wurzel, aber sie hielt fest und liess ihn nicht frei. Dieses Mal entdeckte die Nachtfee viele Tränen in seinem Blütenkelch. Behutsam streichelte sie jedes einzelne Blütenblättchen und unter ihrer zarten Hand verwandelten sie sich in duftige Schirmchen, so fein wie Spinnenweb und so leicht wie Flaum. „Nun kannst du fliegen, wohin du willst! Vor dir liegt die grosse, schöne Welt! Nun kann dich deine Wurzel nicht mehr festhalten“, flüsterte ihm die Nachtfee noch ins Ohr, bevor sie verschwand.

Wie gross was sein Erstaunen, als er am anderen Morgen aufwachte. Wo war sein gelbes Blütenkleid geblieben? Er stand da in einem federleichten Tanzkleidchen und breitete stolz viele, viele Schirmchen aus. Er war ganz anders geworden. So leicht war ihm noch nie ums Herz gewesen. „Nimmt mich denn keiner mit?“ rief er. „Ich würde so gerne fliegen, schweben, gleiten!“ „Hui, hui, flieg mit mir um die Wette! Komm, komm!“ pfiff der Wind und wirbelte die Schirmchen hoch in die Luft. Nun konnte sich der Löwenzahn über die ganze Welt verbreiten. Rauf und runter, kopfüber und kopfunter, über die Wiese weg, knapp an einem hohen Eichenbaum vorbei und – oh Schreck – mit einem Schirmchen blieb er in einem Vogelnest hängen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Fünf aufgerissene Schnäbelchen, die alle auf Futter warteten. Der kleine Löwenzahn kam aus dem Staunen nicht heraus. Um Nahrung brauchte er sich doch nie zu kümmern. Er hatte immer eine Wurzel gehabt. Aber nun – nun hatte er keine mehr. Da warf ihn der Wind auf einen harten Stein und liess ihn dort liegen. Es wurde kalt und der kleine Löwenzahn wurde durstig und müde. Aber da war niemand, der ihm zu trinken geben konnte. Der Stein war starr und stumm und konnte ihm nicht helfen. Wie sehr sehnte sich nun der Löwenzahn nach einer Wurzel. Aber der Wind hatte ihn nocht nicht vergessen. Noch einmal wirbelte er das Schirmchen hoch in die Luft, und noch einmal fühlte der Löwenzahn das beglückende Gefühl in sich, leicht und schwerelos zu sein. Er sah die ganze Pracht einer Sommerwiese unter sich und langsam liess ihn ein zarter Lufthauch hinunter gleiten zur Erde.

Nun schmiegte er sich ganz fest in das warme Erdreich und wollte ganz darin versinken. Zwar war es herrlich gewesen draussen in der Welt und er hatte wunderschöne Dinge erlebt. Aber nun wusste er, dass er ohne seine Wurzeln nicht sein konnte. Er dehnte und streckte sich. Das Dehnen und Strecken schmerzte so sehr, dass er fast die Besinnung darüber verlor. Er fühlte, wie etwas in ihm zersprang. Aber in all dem Schmerz wuchs ihm langsam eine neue Wurzel. Ein neuer Stengel mit einer kleinen Knospe drängte dem Licht entgegen.

(Stephanie Witt-Loers)

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